Kalte Progression − Definition, Ursachen & Auswirkung

Inhaltsverzeichnis

Ein Überblick

Definition: kommt zustande, wenn Lohnsteigerung nur den Ausgleich der Inflation bewirkt, aber nicht zu mehr Netto-Einnahmen führt

Ursache: Resultat der deutschen Steuerprogression

Auswirkung: führt zu einem Kaufkraftverlust nach Abzug von Inflation und Steuern trotz Gehaltserhöhung

Maßnahmen: Investments in Aktien oder Gold können den Kaufkraftverlust ausgleichen

Diskussion: von Durchschnittsverdienern wird die Steuerprogression als ungerecht empfunden; der Staat möchte jedoch nicht auf diese zusätzlichen Steuereinnahmen verzichten


Was ist die kalte Progression?

Im deutschen Steuersystem werden höhere Einkommen mit einer höheren Steuer belastet. Mit fortschreitendem Einkommen steigt die Steuerbelastung, wodurch eine progressive Erhöhung des Einkommenssteuersatzes erfolgt. Der minimale Eingangssteuersatz von 14 Prozent stellt den Anfangspunkt der Steuerprogression dar, die im Spitzensteuersatz in einer Steuer von maximal 45 Prozent mündet. Der Durchschnittssteuersatz liegt inmitten der beiden Grenzsteuersätze. Damit nimmt der Anteil am zu versteuernden Einkommen überproportional zu. Je geringer das zu versteuernde Einkommen ist, desto geringer fällt prozentual die Steuerlast aus. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass die Steuer prozentual größer wird, je höher das zu versteuernde Einkommen ausfällt. Im Grunde ist dies ein gerechtes System, da die Personen mit einem größeren Einkommen entsprechend höhere Steuern zu zahlen haben.

Bei der Steuerprogression steigt mit höherem Einkommen also die Besteuerung überproportional an. Die kalte Progression kommt zustande, wenn eine Lohnsteigerung nur den Ausgleich der Inflation, das heißt der Preissteigerungen bewirkt, es aber nicht zu mehr Netto-Einnahmen führt. Da die Einkommenssteuersätze nicht an die Kaufkraftminderung angepasst werden, nimmt bei einer Gehaltserhöhung die Steuerlast zu. Es kommt zu einem Kaufkraftverlust.

Anschaulich erklärt

Trotz einer Lohnerhöhung des Brutto-Gehalts kann man sich nach Zahlung der Einkommenssteuer weniger leisten als vorher. Die Steuerbelastung wächst stärker als das Bruttoeinkommen.

So funktioniert die kalte Progression

Die kalte Progression: Ein Beispiel

Im Folgenden soll ein Beispiel die Auswirkungen der kalten Progression auf die Finanzen verdeutlichen: Angenommen ein Arbeitnehmer verdient 3.200 Euro brutto innerhalb der Steuerklasse I. Wenn der Arbeitnehmer eine Gehaltserhöhung von 3 Prozent erhält, entsprächen das 96 Prozent mehr im Monat. Hiervon würden 68,02 Prozent netto für den Arbeitnehmer übrig bleiben. Den Rest der Gehaltserhöhung hat die Einkommenssteuer geschluckt, da nach der Gehaltserhöhung für den Arbeitnehmer ein anderer Einkommensteuertarif gilt als vorher. Der Durchschnittssteuertarif steigt nach der Gehaltserhöhung. Somit steigt das Nettogehalt aufgrund der Steuerprogression weniger an als das Bruttogehalt. Von den 3 Prozent Gehaltserhöhung bleiben dem Arbeitnehmer nach Steuern 2,1 Prozent mehr Lohn übrig.

Hinzu kommt der Faktor Inflation: Die Preise für Waren und Dienstleistungen steigen in der Regel zum Vorjahresvergleich weiter an. Dieser Preisanstieg wird mit der Inflationsrate gemessen. Jahr für Jahr wird damit angezeigt, um wie viel Prozent die Kaufkraft bei gleichbleibendem Gehalt gesunken ist. Da die Inflationsrate im Jahr 2019 durchschnittlich 2 Prozent betrug, bleiben dem Arbeitnehmer von seiner Gehaltserhöhung gerade einmal 0,1 Prozent übrig. Die Erhöhung des Gehalts hat damit die Inflation ausgeglichen. Eine Erhöhung der Kaufkraft bleibt aus. Wenn dieses Szenario sich in den nächsten Jahren wiederholt, dann kann der Arbeitnehmer durch die Steuer einen realen Kaufkraftverlust erleiden. Sein Nettoeinkommen wächst durch die Steuerprogression langsamer als sein Bruttogehalt. Wenn dann die Inflation schneller ansteigt als das Nettoeinkommen, sinkt die Kaufkraft weiter.

Monatliche Inflationsrate in Deutschland

Belastung durch die kalte Progression

Der Kaufkraftverlust wird durch die lange anhaltende Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) weiter verstärkt, da der deutsche Steuerzahler den Kaufkraftverlust nicht durch Zinseinnahmen ausgleichen kann. Die Zinsen für Tagesgeld liegen im Schnitt mit 0,2 Prozent deutlich unter der Inflationsrate; steigende Zinsen sind nicht in Sicht.

Die EZB möchte diese weiter niedrig halten, um die Konjunktur in der Eurozone in Gang zu bringen. Diese Niedrigzinspolitik kostete deutsche Anleger bislang insgesamt 23 Milliarden Euro bzw. 280 Euro pro Kopf durch entgangene Zinsen, wie aus dem Global Wealth Report der Allianz hervorgeht.

Was kann der Steuerzahler gegen den Kaufkraftverlust unternehmen?

Doch was kann der Anleger gegen den Kaufkraftverlust tun, fragen sich immer mehr Steuerzahler. Die Lösung ist einfach: Investments in Aktien und in Gold haben die Vermögensverluste durch den Kaufkraftverlust in den letzten Jahren mehr als ausgeglichen. Finanzexperten raten daher immer wieder zu einer Depotbeimischung von 10 bis 15 Prozent Gold. Nicht ohne Grund: Während Papierwährungen wie der US-Dollar und der Euro in den letzten Jahren an Kaufkraft verloren haben, hat der Wert von Gold stark zugelegt. Wurde das gelbe Edelmetall in den 70er Jahren noch bei 35 US-Dollar pro Feinunze gehandelt, notiert Gold heute bei mehr als 1.950 US-Dollar pro Feinunze. Gold ist damit faktisch das bessere Geld.

Ebenso sind Anleger in den letzten Jahren mit Aktieninvestments gut gefahren. Zu den Gewinnern gehören starke Marken wie VISA, Disney oder BMW. Auch die Technologieaktien (Microsoft, Intel und Google) entwickelten sich in den vergangenen fünf Jahren deutlich besser als der Gesamtmarkt. Solche Investments haben die Kaufkraftverluste durch die kalte Progression wettgemacht.

Wie ungerecht ist die Steuerprogression?

Wenn es um die Frage nach der Gerechtigkeit der Steuerprogression beziehungsweise der generellen Einkommensteuer geht, scheiden sich die Geister. Die einen finden die Steuer gerecht, die anderen nicht. Doch was ist gerecht? Im Rechtssystem ist kaum ein Begriff so schwer zu greifen wie die Gerechtigkeit. Beim kulturell gewachsenen Empfinden für das, was fair und unfair ist, hängt die Bewertung unter anderem vom sozialen Status ab. Das zeigt eine Umfrage des Instituts Allensbach: 73 Prozent der Befragten halten die Steuerprogression in Deutschland für gerecht, nur 14 Prozent fordern eine Flat Tax mit einheitlichem Steuersatz.

Damit liegt die Mehrheit auf Linie des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge die progressive Besteuerung dem Gleichheitsgebot in Artikel 3 des Grundgesetzes entspricht und rechtskonform ist. Die kalte Progression folgt demnach dem Leistungsprinzip im Steuerrecht: Wer mehr verdient, trägt anteilig mehr zur Gesellschaft bei. Die Umfrage zeigt gleichzeitig, dass sich die Bewertung etwa zum Spitzensteuersatz mit zunehmendem Einkommen verändert. Die Forderung nach höheren Steuern für Spitzenverdiener lässt nach, sobald Befragte merken, dass der höchste Steuersatz bereits ab einem Jahreseinkommen von rund 55.961 Euro gilt.

Steuerbelastung durch die kalte Progression

Die Einheitssteuer als Alternative zur Steuerprogression

Das Gegenmodell zur deutschen Steuerprogression ist die einheitliche Besteuerung (Flat Tax). Diese kennen die Steuerzahler zum Beispiel in Form der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge, welche einheitlich mit 25 Prozent besteuert werden. Somit gilt die progressive Besteuerung in Deutschland zwar für die Einkommensteuer, aber nicht pauschal für alles andere. Eine generelle Flat Tax wäre insofern gerechter, als sie für jeden die berühmt gewordene Steuererklärung auf dem Bierdeckel ermöglicht.

Da die Einheitssteuer bereits minimale Einkommen erfassen würde, entwickelte der Staatsrechtler Paul Kirchhof im Jahre 2005 eine abgewandelte Version: den Freibetrag und ein Grenzstufentarif von 15, 20 und 25 Prozent für alle Einkommensgruppen. Bei dieser übersichtlichen Progressionsgliederung sollten sämtliche Ausnahmetatbestände und Vergünstigungen abgeschafft werden. Damit würden auch Spitzenverdiener ihren vollen Beitrag leisten. Das grundgesetzliche Gebot der Leistungsfähigkeit wäre erfüllt und es gäbe wenig Raum für abenteuerliche Steuergestaltungen. Der bange Blick auf Zahlen, Zeiten, Zuordnungen entfällt. Stichwort Zuordnung: Es würden ebenso die verschiedenen Steuerklassen wegfallen, die im Einzelfall als diskriminierend empfunden werden. Und nicht zuletzt erübrigt sich die kalte Progression. Das Konzept der Flat Tax ist nach der Wahl der großen Koalition in der Schublade verschwunden.

Historie und Ausblick: Wird die Steuerprogression abgeschafft?

Aufgrund der aufgeführten Schwachstellen in diesem System verlangen Experten seit Langem eine Koppelung der Steuersätze der Einkommensteuer an die Kaufkraftminderung. In anderen Ländern wie den USA, Frankreich oder der Schweiz wird der Einkommensteuertarif jährlich an die Inflationsrate angepasst. Der Bund der Steuerzahler verlangt sogar, den Einkommensteuertarif ständig an alle Preis- und Lohnsteigerungen anzupassen. In der Politik führt die kalte Progression seit Langem zu Streit: Politiker der Union und der SPD sind für einen Abbau. Bereits 2013 hatte die schwarz-gelbe Regierung „mehr netto vom brutto” versprochen. Der Abbau ist am Widerstand des Bundesrats gescheitert. Kanzlerin Angela Merkel macht nicht mit und das hat seinen Grund: Zwar erkennt die Regierung, dass die kalte Progression ungerecht ist, hält aber aufgrund der großen Geldnot und der bisherigen niedrigen Inflationsrate daran fest. Außerdem würde eine Einkommenssteuer „auf Rädern” zu viel kosten.

In Wirklichkeit stellt die kalte Progression für den Staat eine heimliche Steuererhöhung dar, wodurch mehr Einnahmen generiert werden. Wirtschaftsforscher des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) haben berechnet, dass der Staat hierdurch zwischen den Jahren 2006 und 2012 Einnahmen in Höhe von 63 Milliarden Euro erzielte. Die Steuerprogression in Deutschland entspricht zwar im Kern der ausgleichenden Gerechtigkeit nach Aristoteles, im Detail aber erscheint sie ungerecht. Das System versucht mit Zuordnungs-, Einschränkungs- oder Abschreibungsvarianten einer Unzahl von Einzelfällen gerecht zu werden. Hinzu kommt die politisch gewollte Lenkungswirkung, die sich mit jeder neuen Regierung ändert. Doch eine Änderung ist nicht in Sicht.

Für den Bundesfinanzminister lohnt sich das Verfahren: 63 Milliarden Euro spült die kalte Progression allein in den Jahren 2006 bis 2012 in die Staatskasse, berechneten Wirtschaftsforscher des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Uni Bremen.
Für den Bundesfinanzminister lohnt sich das Verfahren: 63 Milliarden Euro spült die kalte Progression allein in den Jahren 2006 bis 2012 in die Staatskasse, berechneten Wirtschaftsforscher des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Uni Bremen.
Für den Bundesfinanzminister lohnt sich das Verfahren: 63 Milliarden Euro spült die kalte Progression allein in den Jahren 2006 bis 2012 in die Staatskasse, berechneten Wirtschaftsforscher des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) an der Uni Bremen.