EU-Ratspräsidentschaft überschattet von Corona
Mit dem heutigen 1. Juli übernimmt Deutschland turnusmäßig nach 13 Jahren wieder die EU-Ratspräsidentschaft. Damit kann Deutschland in den kommenden sechs Monaten erheblichen Einfluss nehmen auf die politische Agenda des EU-Rates, kann Schwerpunkte setzen und Themenbereiche priorisieren. Theoretisch.
Denn praktisch dürften die kommenden sechs Monate vor allem durch ein Thema bestimmt sein: die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen.
Das Virus hat Europa in eine tiefe Krise gestürzt. Einmal mehr ringt der Kontinent um die richtige Reaktion auf anstehende Herausforderungen. Seit gut zehn Jahren befindet sich die Europäische Union nunmehr im Dauerkrisenmodus, immer wieder werden auch die Grundpfeiler ihrer Existenz in Frage gestellt.
Europa im Dauerkrisenmodus
Erst kam die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich in Europa schnell zu einer Staatsschulden- und Eurokrise verdichtete, seit 2015 beschäftigen sich die EU-Staaten damit, wie eine gerechtere Flüchtlingspolitik aussehen könnte und seit vier Jahren steht über dies der Brexit im Fokus Europas.
Die Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens, der im Januar formal vollzogen worden war, gehen in den kommenden Monaten in die entscheidende Endphase, am Ende droht ein harter Brexit ohne jegliches Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und den verbleibenden 27 EU-Mitgliedern.
All das überschattet die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und weckt Begehrlichkeiten. Angela Merkel wird für ihre Fähigkeiten im internationalen Krisenmanagement hoch geschätzt, eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft mit entsprechenden Akzenten dürfte den Abschluss ihrer im kommenden Jahr endenden Amtszeit krönen.
Internationales Krisenmanagement – Merkels Metier
Die internationale Bühne war schon immer Merkels Terrain. Hier bewegt sie sich souveräner und sicherer, als es ihr teilweise in der politischen Schlangengrube Berlins möglich ist. Gerade in den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie konnte sie mit den zuständigen Ministern ihres Kabinetts sowie den Vertretern der Länder wiederum punkten – kaum ein anderes Land in Europa ist so glimpflich durch die Krise gekommen wie Deutschland.
Nicht zuletzt deswegen sehen es viele Vertreter in Brüssel als glückliche Fügung an, dass Deutschland gerade jetzt die EU-Ratspräsidentschaft wieder innehat. Doch die eigentlich geplanten Schwerpunkte dürften angesichts der akuten Herausforderungen zu kurz kommen.
Ursprünglich waren Aspekte wie Umwelt- und Klimapolitik, aber auch das Austarieren der europäischen Beziehungen zu China und den USA auf Merkels Agenda gewesen. Diese Dinge dürften nun wohl eher am Rande aufs Tableau kommen – und stets mit Corona im Nacken.
Wenn es schlecht läuft, droht eine zweite Infektionswelle noch während der kommenden sechs Monate, nachdem nun grenzüberschreitender Reiseverkehr zumindest innerhalb Europas wieder weitgehend möglich ist und die Urlaubssaison bevorsteht. Gerade in einer solchen Ausnahmesituation könnte es Gold wert sein, eine langjährig routinierte und erfahrene Krisenmanagerin wie Merkel nicht nur im Kanzleramt, sondern auch an der Spitze des EU-Rates zu wissen.