Radikal digital – die Zukunft wohnt im Baltikum

Die digitale Transformation fasziniert genauso wie sie beunruhigt. Doch zum einen ist sie nicht aufzuhalten und zum anderen können Unternehmen oder Länder den Prozess nur dann mitgestalten, wenn sie am Ball bleiben und Kompetenzen erarbeiten.
Einer der Vorreiter ist der kleine baltische Staat Estland. Die Digitalisierung hat im estnischen Alltag Einzug gehalten wie in keinem anderen Land Europas.
Estlands Digitalisierung als Vorbild
Dass ausgerechnet Estland zum Digitalisierungswegbereiter wird, liegt wohl auch an der überschaubaren Größe des Landes, wo die Wege kürzer und die Risiken scheinbar geringer sind. Zudem verschafft sich der kleine Staat mit seinen 1,3 Mio. Einwohnern damit ein Alleinstellungsmerkmal. Vertreter aus ganz Europa pilgern ins Baltikum, um das Experiment vor Ort zu bestaunen.
Ganz wesentlich hat Estland die Digitalisierung des Staatswesens vorangetrieben. Ewige Wartezeiten, umständliche Formulare für Anträge und Schlangestehen bei Behörden gehören der Vergangenheit an. Die nahezu durchgängige elektronische Verwaltung, das E-Government, hat alles vereinfacht: Ummelden, Ausweise beantragen, wählen oder Firmen gründen – mit ein paar Klicks auf dem Rechner oder Smartphone ist vieles in Kürze erledigt.
Auch Steuererklärungen lassen sich so in Rekordzeit abwickeln. Angeblich landen Rückzahlungen in wenigen Minuten auf dem Konto.
Transparenz und Schnelligkeit auch beim Krankensystem: Auf die elektronische Krankenakte können Ärzte und Patienten jederzeit zugreifen. Und zwar über die elektronische Identitätskarte, die jedermann besitzt. Sie dient neben dem Umgang mit Behörden als Versicherungskarte oder für Bankgeschäfte bis hin zur Nutzung als Fahrausweis oder Eintrittskarte.
Ebenso wird in den Schulen digital erledigt, was sinnvoll ist. Und das beschränkt sich nicht auf die Verwaltung, auch im Unterricht kommen Rechner und Tablets zum Einsatz. Alle Schüler sind in der Lage zu programmieren. Sie werden nicht nur mit der neuen Technik groß, sie wissen auch, dass sie wie alle Bürger in Estland ein verbrieftes Grundrecht auf freien Internetzugang haben.
Programmierer als Volkshelden
Bürger werden mittlerweile vom Staat als Kunden angesprochen und auch so behandelt. Im Internet präsentiert sich das Land selbst als E-Estonia. Das ganze Umfeld ist dabei ideal für neue Firmen. In dem Land, das weniger Einwohner hat als München, sorgen rund 400 Startups für 2.300 Jobs und 20 Mio. € an Sozialabgaben.
Sie alle sind stolz darauf, dass in Estland der Internet-Telefonierdienst Skype aus der Taufe gehoben und auf den Weg gebracht wurde, bevor 2011 Microsoft ihn aufkaufte. Die drei Gründerprogrammierer aus Tallinn werden wie eine Art Volkshelden verehrt. Derweil lockt die staatliche Agentur „Startup Estonia“ immer mehr ausländische Firmen ins Land.
Estland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, weil Großbritannien aufgrund des Brexit ausfiel, drängt nun darauf, die Grundpfeiler des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und Personen auf einen freien Datenfluss zu erweitern.
Während Estlands Startups neue Felder besetzen, versucht die EU auch die anderen Länder auf die Digitalisierung einzustimmen. Denn wer den Zug verpasst, verliert an Einfluss und muss früher oder später das Feld räumen. Um als einheitlicher Wirtschaftsraum wettbewerbsfähig zu bleiben, werden Unternehmen mit dem großangelegten Programm Horizon 2020 finanziell gefördert.
Niedrigste Verschuldung in der EU
Eines der jüngsten Großprojekte nennt sich Productive4.0. Unter der Leitung und Koordination von Infineon erarbeiten 108 Unternehmen aus 19 Ländern in verschiedenen Arbeitsgruppen neue integrierte Formen von Angeboten, Produktion und Kundenversorgung über die gesamte Lieferkette hinweg. Beteiligt sind unter anderem ABB, BMW, Philips oder Thales sowie eine Reihe von Universitäten und Forschungsinstituten wie die Fraunhofer Gesellschaft. In drei Jahren liegen die Endergebnisse vor.
Inwieweit bis dahin die einzelnen Staaten mit den Rahmenbedingungen nachziehen, bleibt abzuwarten. Immerhin: Nicht nur die Wirtschaft erwartet neben neuen Geschäftsfeldern und Jobs erhebliche Einsparungen, auch die Kassenwarte der Regionen, Länder und Nationen könnten davon profitieren. Laut einem Gutachten der Bundesregierung würde eine Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung nach estnischem Muster gut ein Drittel aller jährlichen Kosten vermeiden.
Nicht ohne Grund hat Estland mit nur 9,5 % vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) die mit Abstand wenigsten Schulden in der EU, selbst Luxemburg kommt auf 20 %. Allein die elektronische Identitätskarte Estlands erspart dem Land nach eigenen Angaben rund 2 % des BIP. Gemessen an der deutschen Wirtschaftsleistung von zuletzt 3,144 Bio. € wären das 62,88 Mrd. €. Damit ließe sich beispielsweise die Infrastruktur inklusive Breitbandnetze vorantreiben und vielleicht sogar ein freies WLAN schaffen – sofern das nicht an den Anbietern scheitert, die damit ihr Geld verdienen.