Auf zu amerikanischen Ufern – Die deutsche Konzernära Lindes geht zu Ende
Von wegen Sell in May. Der Wonnemonat bot allein bei der Linde-Aktie die Gelegenheit, mal eben gut 17% Kursgewinn mitzunehmen. Fusionsphantasien beflügelten das Papier schon im April. Nach zwischenzeitlichen Unsicherheiten, ob der Industriegase-Hersteller Linde eine Fusion mit Praxair, dem amerikanischen Mitbewerber, eingehen würde, fiel am 1. Juni die Entscheidung:
Linde und Praxair verschmelzen zu einem neuen Konzern.
Börsenwert 66 Mrd. €, 27 Mrd. € Umsatz und über 80.000 Mitarbeiter weltweit. Auch wenn Linde weiterhin Linde heißt, so geht eine 138-jährige deutsche Linde Ära zu Ende – und ein Gerangel, das seit einem halben Jahr an Heftigkeit zugenommen hat. Ein Rückblick:
Gezerre um Linde-Fusion mit Praxair
In den Schlagzeilen hieß es: Linde will mit Praxair fusionieren. Das galt aber nicht für das ganze Unternehmen. Der Vorstand war sich über die Fusion uneins, Aufsichtsrats-Chef Wolfgang Reitzle versuchte aber mit allen Mitteln, den Zusammenschluss durchzuziehen. Und das gegen die Belegschaft.
Er sah die Chance, den weltweit größten Anbieter für Industriegase mit einem Marktanteil von 40% auf den Weg zu bringen. Letztes Jahr wurde Linde als ewige Nummer eins von Air Liquide verdrängt. Das neue Unternehmen soll von den USA aus gelenkt und dessen Holding nach Dublin verlegt werden. Das mindert Steuern und Mitbestimmungsrechte.
Für die Belegschaft war das ein Ausschlusskriterium. Sie wehrte sich gegen massiven Stellenabbau sowie eine Werksschließung in Dresden und sieht die Fusion nicht als Zusammenschluss unter Gleichen.
Faktisch würde Linde vom wesentlich kleineren Partner Praxair übernommen, heißt es. Praxair beschäftigt 26.650 Mitarbeiter, Linde fast 60.000. Die Amerikaner machten 2016 einen Umsatz von 10,78 Mrd. US-$, das Münchner Traditionsunternehmen fast 17 Mio. €.
Und was bringt die Fusion? Praxair ist Marktführer in Nord- und Südamerika, kämpft aber mit sinkenden Umsätzen. Bei Linde schwächelt lediglich der Bereich Anlagenbau. Insgesamt ist das Dax-Unternehmen breiter aufgestellt und erfreute im ersten Quartal mit Umsatzsteigerungen von 6,6%. Ende Mai kam auch noch ein Milliardenauftrag aus Russland ins Haus.
Linde-Chef zu allem entschlossen
Auf eine Fusion mit Praxair war Linde eigentlich nicht angewiesen. Zudem müssen beide Partner aus kartellrechtlichen Gründen Firmenanteile verkaufen. Verlockend sind indes die Einspar- bzw. Synergieeffekte von rund 1 Mrd. € sowie höhere Gewinnmargen. Zudem ist Praxair mit seiner stärkeren Konzentration viel profitabler.
Um sein Ziele durchzusetzen, hat Reitzle mehrfach angekündigt, auf der entscheidenden Aufsichtsratssitzung bei einer Kampfabstimmung notfalls seine ihm zustehende Zweitstimme einzusetzen. Immerhin waren nicht alle Vorstandsmitglieder von seinen Plänen angetan.
Front zwischen Aufsichtsratschef und Arbeitnehmern
Das wiederum goss Öl ins Feuer und rief die Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften auf den Plan, die mit massiven Protesten reagierten. Auch auf der Hauptversammlung hagelte es Kritik. Deutsche Aktionäre befürchten Nachteile, wenn die operative Leitung mit dem Konzernsitz in die USA nach Danbury im Bundesstaat Connecticut verlegt wird und drohten mit Klage.
Allerdings sind sie mit 11% in der Minderheit, so wie bei vielen Dax-Konzernen. Die meisten Aktionäre und Investoren kommen aus den USA und Großbritannien. Ein Drittel von ihnen ist zugleich in Aktien von Praxair investiert.
Nicht einstimmig und mit Zugeständnis
Der Plan bei der Fusion: Die Aktionäre von Linde und die Praxair sollen je die Hälfte an der neuen Holding halten. Die Aktie bleibt an den Börsen in New York und Frankfurt gelistet. Alte Linde-Aktien werden aufgrund des schwindenden Volumens aus dem Dax absteigen.
Sobald die Hautversammlung von Praxair grünes Licht gibt, beginnt der Aktientausch. Linde-Aktionäre können sich dann frei entscheiden. Nehmen weniger als 75% das Angebot an, stünde theoretisch die Fusion erneut infrage, weil die neue Holding keinen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag mit der alten Linde schließen kann.
In den Stunden bis zur entscheidenden Abstimmung legte die Aktie um 4 € auf fast 176 € zu. Die Mehrheit segnete die Fusion ab, aber ohne die sonst übliche Einstimmigkeit. Auch unter den Investoren gab es etliche Enthaltungen.
Linde nach möglicher Fusion unter Praxair-Führung
Im Gegenzug musste der Vorstand zurückstecken: Wenn es zur Fusion kommt, haben die Beschäftigten Kündigungsschutz und Standortgarantien bis 2021. Stimmen die Kartellbehörden zu, ist der Zusammenschluss in der zweiten Hälfte 2018 vorgesehen. Bleiben wird der Name Linde. Neuer Vorstandschef aber wird Praxair-Chef Steve Angel. Und Wolfgang Reitzle hat Linde vermutlich etwas unter Wert verkauft.